Die Nacht vom 14. auf den 15. Februar verbrachte der Anwalt Jamie Singer größtenteils am Telefon. Es ging, immerhin, um die Karriere seines Klienten: Jannik Sinner, 23, seit Sommer die Nummer eins der Tennis-Weltrangliste und seit seinem Triumph bei den Australian Open im Januar dreimaliger Grand-Slam-Turniersieger.
Singer, so hat er es jetzt der britischen BBC erzählt, fand sich in einer „verzwickten“ Lage. Zwar hatte ein Tribunal seinen Klienten vor einigen Monaten in der ersten Instanz freigesprochen. Es hatte Sinner geglaubt, dass dessen Physiotherapeut eine eigene Wunde mit einem Mittel behandelt hatte, in dem das anabole Steroid Clostebol enthalten war. Daraufhin habe der Betreuer Sinner massiert, die Substanz unwissentlich in dessen Körper geschleust, ehe es zum positiven Dopingtest kam. Ungefähr so glaubhaft wie kontaminierte Tortellini, fanden manche, aber Sinner war so überzeugt von seiner Unschuld, dass er sich auch nicht sorgte, als die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) im September 2024 den Internationalen Sportgerichtshof (Cas) anrief. Die Wada bezweifelte, dass Sinner „kein Verschulden oder keine Nachlässigkeit“ traf. Und bei Substanzen wie Clostebol ist das Regelwerk klar: ein bis zwei Jahre Sperre.
Bis die Wada in den Tagen vor dem 14. Februar offenbar einen, nun ja, spannenden Vorschlag an Sinners Team herantrug: Sie wolle ihren Einspruch zurückziehen. Sinner müsse aber eine reduzierte Sperre akzeptieren, über drei Monate. Der 23-Jährige sträubte sich erst – warum sanktioniert werden, wenn er unschuldig war? Sein Anwalt überzeugte Sinner dann so: „Wenn wir den Deal nicht akzeptieren, wird die Wada vor dem Cas auf eine Sperre von einem Jahr drängen, und niemand kann vorhersagen, was die Richter dort tun werden.“ Drei Monate Sperre, sollte Sinner rasch einschlagen, würden zudem Mitte Mai ablaufen – passgenau vor dem zweiten Grand Slam des Jahres, den French Open.

Affäre um chinesische Positivtests
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Die Wada erklärt sich selbst zum Sieger
Hat die Welt-Anti-Doping-Agentur 23 Positivfälle von chinesischen Schwimmern „vertuscht“? Gegen diese Behauptung ging die Wada juristisch vor – und lässt die Klage nun fallen. Als rehabilitiert sieht sie sich trotzdem an.
Seitdem die Wada am 15. Februar ihre Einigung mit Sinner verkündet hat, ist nicht nur die Tenniswelt in Aufruhr. „Das System ist ein geschlossener Zirkel. Seine angeblichen Einzelfallentscheidungen sind in Wahrheit ein Deckmantel für maßgeschneiderte Deals“, teilte die Spielervereinigung PTPA mit, stellvertretend für viele Profis. Und selbst wenn die Wada und Sinners Team darauf verweisen, dass sie strikt alle Regeln befolgt haben, zeigt sich immer klarer, dass womöglich die Regeln das Problem sind – beziehungsweise die Art, wie die schwer angezählte Wada diese Regeln bisweilen bedient.
Anti-Doping-Verfahren können sich rasch zu einem gewaltigen Akt entwickeln. Da ist das behördliche Protokoll, das an eine Buchstabensuppe erinnert. Sportverbände beauftragen unterschiedliche Agenturen, die Profis zu kontrollieren (etwa die Nada oder die International Testing Agency); wieder andere Tribunale verhandeln die Fälle (bei Sinners war es die Tennis-Integritätseinheit ITIA). Die Wada als globale Oberaufsicht, die nationalen Anti-Doping-Agenturen oder auch die Athleten können die Fälle dann vor höhere Instanzen bringen wie den Cas. All das kann rasch so teuer werden, dass Sportler Sperren akzeptieren, weil sie sich die Verfahren nicht leisten können.
Seit 2021 ist im World-Anti-Doping-Code, dem zentralen Paragrafenwerk der Wada, eine Abkürzung eingebaut, Punkt 10.8.2.: das Case Resolution Agreement, eine Art außergerichtlicher Vergleich. Lars Mortsiefer, Vorstand der deutschen Nada, hält das grundsätzlich für ein „gutes, ein absolut wichtiges Instrument“; so probat gar, dass man bei vielen eigenen strittigen Fällen prüfe, ob man diese mit diesem Werkzeug lösen könne. Zum einen bringe es den Athleten „auf Augenhöhe“ mit den Regelhütern; er tausche sich mit ihnen direkter aus, könne seine Position oft besser vorbringen, sich besser verteidigen. Das führe wiederum zu höherer Akzeptanz, weil ein Athlet erlebt, wie „die Anti-Doping-Organisation anhand seines Vortrags eine angemessene Sanktion festlegen möchte“, sagt Mortsiefer. Diese könne auch vom üblichen Katalog der Sanktionen abweichen – statt ein bis vier Jahren könne man sich, zumindest in der Theorie, auch auf einen Tag oder acht Jahre einigen.
Die Wada äußerte sich erst später ausführlicher – und teilte Erstaunliches mit
Bei einem so prominenten Fall wie Sinner, bei dem die Ansichten bis heute polarisieren, hält Mortsiefer ohnehin ein geordnetes Verfahren wie vor dem Cas für geeigneter: mit Vortrag, Gegenvortrag, Urteil. Werde trotzdem so diskret verhandelt, müsse es zwingend „transparent und nachvollziehbar“ zugehen, sagt Mortsiefer, die Entscheidung öffentlich begründet werden. Im Fall des Eishockeyspielers Yannic Seidenberg, den die Nada damals per Einigung beendete, habe man dies getan. Im Fall Sinner könne er das so nicht erkennen.
Hatte die Wada im September 2024 noch öffentlich verkündet, dass Sinner auch für die Fehler seiner Entourage hafte und deshalb ein Jahr Sperre angemessen sei, hielt sie am 15. Februar fest: „Basierend auf den einzigartigen Fakten dieses Falls, ist eine Dreimonatssperre ein angemessener Ausgang.“ Was genau diesen Fall so „einzigartig“ macht, dass plötzlich drei Monate statthaft sein sollen, führte die Wada da nicht aus. Und war sie laut Sinners Anwalt nicht noch am Vorabend der Einigung gewillt, vor dem Cas auf einer längeren Sperre zu bestehen, sollte man nicht mit Sinner handelseinig werden?
Wadas Justiziar Ross Wenzel äußerte sich erst am vergangenen Sonntag ausführlicher, als die BBC nachhakte – und erstaunte. Zunächst einmal sei Sinners Einigung eine von mittlerweile rund 70, die die Agentur seit 2021 unter der neuen Regelung getroffen habe. Die Sperre richte sich auch allein nach dem Zeitpunkt der Einigung, nicht dem Tenniskalender. Es habe sich auch nichts „fundamental“ daran geändert, wie die Wada den Fall sehe, beteuerte Wenzel. Aber hätte man vor dem Cas verhandelt, hätte dieser das Regelwerk der Wada strikt anwenden müssen: entweder Freispruch oder mindestens ein Jahr Sperre, weil ein Athlet auch für Substanzen in seinem Körper verantwortlich ist, die durch die Haut seines Physiotherapeuten dorthin gelangt sein sollen. Den Spielraum, die Sanktion dafür flexibel anzupassen, steht derzeit nur einer Anti-Doping-Agentur zu, im Rahmen des Case Resolution Agreements.
„Das wissenschaftliche Feedback, das wir erhalten haben“, fuhr Wenzel fort, habe das dann auch nötig gemacht, denn: Man habe erkannt, „dass hier kein absichtliches Doping vorliegen kann, auch keine Mikrodosierung. Dieser Fall war eine Million Meilen entfernt von Doping.“ Dieses Feedback, das schreibt die Wada erst auf SZ-Anfrage, habe man sowohl von den eigenen Wissenschaftlern als auch von externen Experten eingeholt. Wann genau das geschah, beantwortet die Wada nicht. Somit bleibt auch unklar, weshalb die Agentur im Herbst 2024 noch voller Überzeugung mindestens ein Jahr Sperre vor dem Cas anstrebte, ehe sie sich nun mit drei Monaten zufrieden gab.

Leichtathletin Sara Benfares
:Das Ende einer bizarren Dopingaffäre
Erst war bei der einstigen Leichtathletin Sara Benfares die Rede von Knochenkrebs, dann von einer „diffusen Knochenerkrankung“: Stattdessen sieht das Gericht einen Verstoß gegen das Anti-Doping-Gesetz – und verhängt eine Geldstrafe.
Für Nada-Vorstand Mortsiefer klafft noch ein Loch in dieser Argumentationskette: Wenn, so wie es die Wada schildere, kein Dopingverstoß vorliege, „dann sollte ein Athlet freigesprochen werden“. Sprich: auch nicht für drei Monate gesperrt werden. Mortsiefer könnte es sogar nachvollziehen, falls die Wada die Dreimonatssperre absichtlich vor den French Open hat auslaufen lassen, „weil man dem Athleten aus Gründen der Angemessenheit so wenig Auswirkungen wie möglich aufbürden möchte. Das wäre in Abwägung des Einzelfalles eine akzeptable Begründung. Aber noch einmal: Wir benötigen diese Erklärung in der Öffentlichkeit.“ Am Ende dürfe nicht der Eindruck entstehen: „Ein Sportler mit den größten finanziellen Mitteln kann die für ihn günstigste Sanktion herausholen.“
Genau das scheint aber bei manchen nun hängenzubleiben: dass es da seit 2021 diesen Passus im Wada-Regelwerk gibt, der Deals möglich macht. Der russische Tennisprofi Daniil Medwedew hatte zuletzt süffisant resümiert: „Ich hoffe, es kann von nun an jeder mit der Wada diskutieren und sich so verteidigen wie Jannik Sinner.“
Für die Wada ist es der nächste Tiefschlag, seit kurz vor den Spielen von Paris bekannt wurde, dass sie einen umstrittenen Freispruch für 23 positiv getestete chinesische Schwimmer akzeptiert hatte. Diesen Vertrauensverlust spürten auch die nationalen Anti-Doping-Organisationen, sagt Lars Mortsiefer: „Als Nada sind wir die Organisation in Deutschland, die täglich versucht, Athletinnen und Athleten die Anti-Doping-Arbeit näherzubringen. Da ist es ganz, ganz wichtig, eindeutig und nachvollziehbar zu kommunizieren. Das gelingt uns auch nicht immer, aber wir sind – das ist mir ganz wichtig – mit beiden Ohren ganz nahe bei dem, was uns die Athleten berichten. Das würde ich mir international flächendeckender wünschen: dass Athleten in jeder Hinsicht gut mitgenommen werden.“
Sein Kollege Travis Tygart, Geschäftsführer der amerikanischen Agentur Usada, formulierte das vorherrschende Gefühl in der Szene jüngst so: „Wer“, fragte Tygart in der New York Times, „überwacht gerade eigentlich den Wachhund?“