Es war der wohl größte politische Protest, den Serbien je erlebt hat. Hunderttausende Bürger demonstrierten gegen Missstände in ihrem Land. Dann bereiteten Provokationen des Regierungslagers dem Protest am Samstagabend ein jähes Ende. Dabei kam es zum Einsatz von Gewalt, Teilnehmern zufolge durch Pfefferspray und das Werfen von Steinen und mutmaßlich von Regierungsseite durch Einsatz einer Schallkanone, um Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Regierung dementierte deren Einsatz allerdings.
Das Regierungslager hatte schon im Vorfeld viel getan, um den Protest kleinzuhalten: Die staatliche Eisenbahn strich wegen angeblicher Terrorwarnungen plötzlich die Züge. Öffentliche Buslinien stoppten den Fahrkartenverkauf nach Belgrad. Trotzdem erlebte Serbiens Hauptstadt die größte Protestversammlung seiner Geschichte.
Deren vordergründiger Anlass war der 1. November 2024: Da stürzte das Vordach des Bahnhofes von Novi Sad ein – und tötete 15 Menschen. Die Katastrophe war aus Sicht vieler Serben eine Katastrophe mit Ansage: Von Korruption begleitete, abgesprochene Aufträge zu überhöhten Preisen und schlampige Bauausführung sind nicht selten.
Auch Schulen folgten dem Boykott
Zunächst protestierten vor allem Studenten und riefen im ganzen Land den akademischen Generalstreik aus: Seit Anfang Dezember sind die meisten Fakultäten besetzt, ruht jeder Unterricht. Auch viele Schulen folgen dem Boykott.
Präsident Aleksandar Vučić, der Serbien seit über einem Jahrzehnt dominiert, behauptet, alle Forderungen der Studenten seien erfüllt: etwa die Veröffentlichung aller Dokumente zum Bahnhof von Novi Sad. „Tatsächlich fehlen immer noch alle entscheidenden Dokumente“, sagt ein Sprecher der Studenten der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.
Der Eingang der Fakultät quillt über von Wasserflaschen und Lebensmittelpaketen, die ihnen sympathisierende Serben gebracht haben. „Wir wissen immer noch nicht, wer in Novi Sad wann genau für welche Arbeit verantwortlich war und wie es sein konnte, dass das eingestürzte Vordach eine Last von 20 Tonnen über der erlaubten Kapazität trug“, so der Sprecher. „Und wenn tatsächlich alle Dokumente bekannt sind: Warum wurde noch niemand angeklagt und vor Gericht gestellt?“
Längst reicht der Protest über die Universitäten hinaus. Als sich am Samstag Demonstranten über fünf Magistralen Belgrads zur am Nachmittag angesetzten Großkundgebung am Parlament aufmachen, sieht der SZ-Korrespondent, wie allein aus dem Stadtteil Neu-Belgrad weit mehr als 100 000 Menschen sieben Stunden lang über die Branko-Brücke ins Stadtzentrum ziehen. Es sind Studenten und Schüler, junge Familien mit Kinderwagen, vor der Rente stehende Postboten, die auf der Straße sind.
Druck auf Studenten und Beamte
Auch die 58 Jahre alte Snežena Selaković und ihre ein Jahr jüngere Schwester Tanja sind dabei, um die Studenten zu unterstützen. Sie sagt: „Alles muss sich bei uns ändern: Vučić und seine Leute müssen weg, wir brauchen endlich unabhängige Staatsanwälte und Richter und andere unabhängige staatliche Institutionen.“ Frei ihre Meinung zu sagen, kann sich Selaković leisten, da die Ingenieurin nicht vom Staat lebt, sondern von ihrer eigenen Consultingfirma.
Hinter der Branko-Brücke verschnauft die 20 Jahre alte Marina mit einem selbstgemalten Plakat vom bereits stundenlangen Marsch: „Wir wollen nicht nach Deutschland – aber ihr zwingt uns dazu!“, steht auf dem Plakat. Hunderttausende Serben sind wegen Korruption, wirtschaftlicher Ausweglosigkeit und politischen Stillstands allein nach Deutschland, Österreich oder in die Schweiz ausgewandert.

Auch der Studentensprecher der Philosophischen Fakultät sagt, dass er „voraussichtlich bald emigriert, wenn sich jetzt bei uns nichts ändert“. Seine Freundin sei „schon im November nach Italien emigriert, um in Padua zu studieren“. Seinen Namen möchte der Sprecher nicht veröffentlicht sehen, denn in Serbien geraten Studenten unter Druck, Beamte, die die Studenten unterstützen, werden entlassen, ihre Zeitverträge nicht verlängert, ihre Gehälter gekürzt oder gar nicht ausgezahlt.
Der Präsident spielt auf Zeit
Bisher hat Präsident Vučić die Proteste ausgesessen, nur der vergleichsweise bedeutungslose Ministerpräsident musste gehen. Vučić und Getreue wie Außenminister Marko Đurić haben die Proteste der Studenten und zunehmend auch anderer Bürger seit Monaten nach russischem Vorbild und mit aktiver Mithilfe Moskaus wiederholt und ohne Beleg als angeblich vom Ausland gesteuerten und bezahlten Versuch einer „Farbenrevolution“ abqualifiziert. Und fünf Tage vor der Großkundgebung vom Samstag behauptete Vučić, die Demonstranten würden am Samstag einen Umsturz versuchen und das Parlament, das nationale Fernsehen RTS und das Verfassungsgericht stürmen.
Ansonsten hat Vučić wiederholt ein Referendum, dessen Inhalt unklar bleibt, oder vorzeitige Neuwahlen angeboten. „Doch Neuwahlen ergeben keinen Sinn, solange bei uns das Regime die meinungsmachenden Medien kontrolliert und die Wahlen fälscht“, sagen etwa der aus Novi Sad angereiste Srđan Savić, 37, und seine gleichaltrige Frau Sonja. Tatsächlich berichteten nicht nur die Opposition, sondern auch unabhängige Wahlbeobachter nach der Parlamentswahl im Dezember 2023 über umfangreiche Manipulationen und mutmaßliche Fälschungen.
Und nicht nur das Regierungsfernsehen RTS, sondern auch ihr nahestehende Privatsender machen an Russland erinnernde Propaganda, die von regierungsnahen Boulevardzeitungen noch verstärkt wird. So warnte das Boulevardblatt Informer vor der Demonstration vor Rumänen, die angeblich massenhaft nach Belgrad kommen und in Wohnungen derer einbrechen wollten, die ihr Zuhause zur Teilnahme am Protest verlassen hätten. Rumänien protestierte offiziell und verlangte eine Entschuldigung.
Schweigeminuten und plötzliche Panik
Die Polizei schätzte die Zahl der Demonstranten vom Samstag auf 107 000. Tatsächlich könnte es leicht eine halbe Million Menschen gewesen sein: Die Bürgergruppe „Archiv öffentlicher Versammlungen“, die Demonstrationen etwa mit Drohnen aufnimmt, nannte die Demo „das größte Treffen in der Geschichte Belgrads“ und schätzte die Demonstrantenzahl auf 275 000 bis 325 000 Menschen. Die echte Zahl könne wegen der riesigen Menschenströme in der ganzen Stadt auch größer gewesen sein.
Auch für ein vorzeitiges Ende der Großkundgebung hatte das Regierungslager offenbar vorgesorgt: Im abgesperrten Pionierpark gegenüber dem Parlament wurden seit Tagen angebliche Regierungsanhänger, die nach einem Bericht des Fernsehsendes N1 mit rund 60 Euro täglich für ihre Anwesenheit angeworben wurden, in Zelten bereitgehalten und von Polizeieinheiten abgeschirmt: Am Samstagabend dann flogen Bierflaschen und Steine aus dem Lager der „Regierungsanhänger“ auf friedlich demonstrierende Bürger.
An anderer Stelle wurde ausgerechnet während 15 Schweigeminuten für die Opfer der Katastrophe von Novi Sad Studentenvertretern zufolge eine nur Polizeikräften zur Verfügung stehende Ultraschallkanone eingesetzt, um Panik zu erzeugen und Demonstranten auseinanderzujagen. Dies zeigen entsprechende Videoaufnahmen und Aussagen von Demonstranten wie etwa die des Wissenschaftlers Zoran Radovanović gegenüber N1. Die Behörden dementierten deren Einsatz.
Das Ehepaar Savić hält den Großprotest jedenfalls für einen Erfolg.„Allein dadurch, dass diese Protestwelle schon seit Monaten andauert und immer größer wird, haben wir viel erreicht – es ist das erste Mal, dass die Energie nicht schnell verpufft. Aber wenn wir in Serbien etwas ändern wollen, wird es viele Jahre dauern.“