„Wohin fliegen Sie?“, fragte mich die Mitarbeiterin der Airline am Flughafen. Ich erstarrte für einen Moment. Wie konnte ich einfach auf eine Frage antworten, deren Antwort ich seit so vielen Jahren hoffte, wieder sagen zu können? Ich atmete tief durch und antwortete leise: „Damaskus.“
Mein Koffer, den ich dabeihatte, war ein anderer als der, den ich vor zwölf Jahren, drei Monaten und vier Tagen mitgenommen hatte, als ich Syrien verließ. Damals hatte ich meiner Familie gesagt, dass ich zwei oder drei Monate wegbleiben würde, und verließ das Land mit einem kleinen Rucksack. Dieser Rucksack begleitete mich durch zehn Länder und enthielt alles, was mir an Erinnerungen geblieben war.

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Als ich 2016 nach Deutschland kam, war ich überzeugt, dass ich weit genug von Syrien entfernt war. Zwischen mir und meinem Heimatland lagen Meere, Grenzen und Baschar al-Assad, ein Diktator, der mich daran hinderte, das Land zu besuchen.
Neue Heimat, kleine Familie
Ich landete schließlich in Berlin und gründete hier meine kleine Familie. Meine jetzt achtjährige Tochter und mein fünfjähriger Sohn wurden hier geboren. Hier habe ich Deutsch gelernt und in verschiedenen Berufen gearbeitet, heute bin ich im sozialen Bereich und im Journalismus tätig. Meine Frau, auch sie kommt aus Syrien, ist selbstständige Köchin. Ich bin jetzt 39 Jahre alt.
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Wir haben Berlin als unsere endgültige Heimat betrachtet. Jahrelang habe ich gesagt: „Berlin ist die Heimat derer, die keine Heimat haben.“ Meinen Kindern habe ich erklärt, dass sie Berliner sind, weil sie hier geboren wurden und mit der Sprache und Kultur des Landes aufwachsen. Von Syrien kannten sie nichts außer ein paar Fotos, die Familie nur aus Videotelefonaten.
Ich habe versucht, meine Kinder vor den Nachrichten aus Syrien zu schützen. Wenn meine Tochter fragte, ob wir den Opa besuchen könnten, antwortete ich, dass der Flughafen in Damaskus geschlossen sei. Ich wagte es nicht, sie mit Gesprächen über Tod, Zerstörung, Gefängnisse und Verhaftungen zu belasten.
Sie merkte aber, wie sehr mich die Ereignisse in Syrien beschäftigten. Immer wieder fragte sie mich, was gerade in Syrien passiert. Seit Anfang Dezember traue ich mich, ihr zu antworten, dass trotz aller Unsicherheiten alles in Ordnung sei. Dass Syrien auf dem Weg in die Freiheit sei. Dass in Syrien ein Diktator geherrscht hat, dessen Familie das Land insgesamt 54 Jahre lang regierte.
Vielleicht war mein Jubel etwas verfrüht. Es gibt noch immer viele Herausforderungen und die Sicherheitslage ist weiterhin heikel, dazu gab es heftige Kämpfe zwischen Regierungstruppen und Anhängern des gestürzten Diktators al-Assad.
Dennoch erklärte ich meiner Tochter nun, warum ihr Bruder Humam heißt. Er ist nach meinem Bruder benannt, der vor zehn Jahren in Assads Gefängnissen verschwunden ist. Ich erzählte ihr auch, dass der Flughafen von Damaskus gerade repariert würde und wir bald nach Syrien reisen könnten, um unsere Familie wiederzusehen. Und ich habe mich gefragt, ob meine Kinder sich dort zu Hause fühlen könnten.

© Hareth Almukdad
In Berlin machten sie ihre ersten Schritte als Kinder, sprachen ihre ersten Worte, hatten ihre Freunde, ihre Erinnerungen und ihre kleine Welt. Was Syrien betrifft, wo ihre Großfamilie und alle ihre Verwandten sind, handelt es sich um Videoanrufe, die nicht länger als ein paar Minuten dauern, ein paar Bilder, die an den Wänden unserer Wohnung hängen, und die Geschichten, die meine Frau und ich ihnen erzählen.
Nun stand ich am Flughafen und flog mit meiner Mutter nach Damaskus. Ich hatte sie erst vor drei Monaten nach Deutschland geholt, nachdem mich das Assad-Regime jahrelang daran gehindert hatte, sie zu sehen. Aus Angst vor unvorhersehbaren Ereignissen erzählte ich niemandem von unserer Reise.
Wir müssen über Beirut fliegen, von dort geht es im Taxi weiter in das gut 100 Kilometer entfernte Damaskus. Als wir den libanesisch-syrischen Grenzübergang erreichen, sehe ich ein Schild am Straßenrand. Darauf steht: „Syrien heißt Sie willkommen“. Das Land, das mich vertrieb, heißt mich nun angeblich willkommen. Meine Unruhe dämpft das nicht.
Ihre Akte wurde von allen Vorwürfen befreit, die das Assad-Regime gegen Sie erhoben hat.
Ein syrischer Grenzbeamter bei Almukdads Einreise in sein Heimatland
Vor Jahren hatte ich diese Grenze illegal überquert, nachts über die Berge, zitternd vor Angst. Meine einzigen Begleiter waren andere Syrer, die vor Assads Hölle in den Libanon flohen.
Der Grenzbeamte begegnete mir sehr freundlich. Unweigerlich verglich ich ihn mit den Grenzbeamten, die mich während der Assad-Ära schlecht behandelt hatten. Nachdem er meine Papiere überprüft hatte, sagte er lachend: „Ihre Akte wurde von allen Vorwürfen befreit, die das Assad-Regime gegen Sie erhoben hat.“ Ich atmete erleichtert auf.

© Hareth Almukdad
Als wir Damaskus erreichten, brauchte ich kein Navigationssystem, mein Herz war mein Wegweiser. Jede Ecke, jede Straße, jedes Viertel war vertraut, ich hatte das Gefühl, alle Menschen, alle Häuser, alle Bäume zu kennen. Als das Taxi in die Straße einbog, in der meine Familie lebt, sah ich meine Geschwister, Neffen und Nichten auf der Straße warten.
Ich kann meine Gefühle nicht in Worte fassen. Zwölf Jahre hatten wir uns nicht gegenübergestanden. Die, die ich als Kinder zurückgelassen hatte, waren jetzt junge Erwachsene. Einige hatten ihr Studium abgeschlossen. Manche hatten geheiratet und Kinder bekommen. Es dauerte mehr als vier Stunden, bis mein Körper den Ort verstand und ich mich beruhigte. Oder waren es fünf?

© Hareth Almukdad
Für die Kinder, die während meiner Abwesenheit geboren worden waren, bin ich ein Fremder. Ich wiederholte mehrmals: „Ich bin dein Onkel“, aber die Verunsicherung blieb, besonders bei den Mädchen. Ich wusste, dass ich während meiner Abwesenheit viel verloren habe.
Die Uhr zeigte Mitternacht, niemand war müde, und ich wagte nicht zu schlafen. Ich fürchtete, ein Gespräch zu verpassen und auch den Schlaf. Ich habe einen Albtraum, der seit Jahren wiederkehrt. In ihm kehre ich nach Damaskus zurück und werde vom Geheimdienst des Assad-Regimes verhaftet. Doch in jener Nacht schlief ich wie ein Baby.
Mein nächster Tag begann früh am Morgen. Ich hatte nur zehn Tage Zeit, um so viele Menschen wie möglich zu treffen, um all die Orte zu sehen, die ich so vermisst hatte.

© Hareth Almukdad
Mein erstes Ziel war mein letzter Arbeitsplatz im Land, der Sitz des syrischen Staatsfernsehens. Aus Gründen, die damals nicht genannt wurden, war ich eines Tages daran gehindert worden, ihn zu betreten. Ich wurde in Daraa geboren, wo sich der Funke der Revolution entzündete.
Das war damals dann der Hauptgrund, warum man mich daran hindern wollte, meinen Beruf als Journalist auszuüben. Dazu kamen viele weitere, unhaltbare Anschuldigungen, irgendwann stand mein Name auf mehreren Fahndungslisten des Regimes. Nun ging ich dorthin, stand stolz da und rief: „Ich bin zurück, Damaskus.“

© Hareth Almukdad
In der Nähe des Gebäudes befindet sich der Umayyaden-Platz und das Damaszener-Schwert-Denkmal, ein Wahrzeichen der Stadt, dort sind auch die Oper und die Freiheitsbibliothek. Bis zum Regierungssturz von Baschar al-Assad hieß sie Hafez-al-Assad-Bibliothek. Ich habe dort früher viele Stunden verbracht, mich mit Freunden und Kollegen getroffen.
Meine zweite Station war die Universität Damaskus, an der ich studiert habe. Ich erinnerte mich an die Worte des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish: „Wenn sie uns die Orte zurückgeben, wer gibt uns dann die Freunde zurück?“

© Hareth Almukdad
Der Kontakt zu all meinen Kommilitonen war abgebrochen. Einige waren vertrieben worden, einige von Assad getötet, manche waren auf Assads Seite.
3000 Statuen von Assad
Als ich umherging, war ich erstaunt, dass in den Straßen weder Bilder von Assad, seiner Familie noch Statuen seines Vaters zu sehen waren. Früher waren es etwa 3000 Statuen, die über alle Städte Syriens verteilt waren. Sie wurden alle zerstört. Auf den syrischen Banknoten ist Assad noch abgebildet. Die alten Scheine wurden bisher nicht ersetzt.
Ich konnte nicht gut mit dem Geld umgehen, denn als ich Syrien verließ, entsprach ein Dollar 50 syrischen Pfund, heute sind es 15.000 Pfund, während das Gehalt eines Arbeitnehmers 20 Dollar pro Monat beträgt.

© Hareth Almukdad
Trotz meines Besuchs mussten meine Geschwister wie gewohnt zur Arbeit. Das war für mich die Gelegenheit, meine mittlere Schwester in ihrer Klinik zu besuchen. Als ich Syrien verließ, war sie ein Schulkind, heute ist sie Zahnärztin. Ich beobachtete, wie sie auf den Fluren der Klinik hin- und hereilte, aber ich sah nur das kleine Mädchen vom Tag meiner Flucht.
Meine andere Schwester ist jetzt Apothekerin in einem der Krankenhäuser der Hauptstadt, und mein Bruder, der damals sieben Jahre alt war, studiert im zweiten Jahr. Beide Schwestern haben mir erzählt, dass sie sich seit Assads Sturz viel sicherer fühlen. Auf dem Weg zur Arbeit gebe es keine Checkpoints von Assads Geheimpolizei mehr, an denen man willkürlich und ohne Grund verhaftet werden konnte. Sie hoffen, dass dies so bleibt.

© Hareth Almukdad
Am nächsten Tag fuhr ich nach Bab Tuma in den Nordosten von Damaskus, wo die christliche Mehrheit lebt. Ich schlenderte über die Märkte und erreichte die Kathedrale al-Zeitoun, auch als Olivenkirche bekannt. In ihrem Innenhof kann man das Zusammenspiel der Kirchenglocken mit dem Gebetsruf aus der benachbarten Moschee hören. Ich war bis spät in der Nacht unterwegs.
Überall Feuer und obdachlose Kinder
Nachts allein auf den Straßen von Damaskus zu sein, war für mich eine Herausforderung. Die Spuren des Regimes waren überall sichtbar: die Überreste von Straßensperren, niedergebrannte Sicherheitsposten und die Armut, die sich in den Gesichtern der Menschen widerspiegelt. An jeder Ecke saßen eltern- und obdachlose Kinder um ein Feuer, denn die Nächte sind sehr kalt. Sie schlafen draußen in den öffentlichen Gärten und unter den Brücken. Viele erzählten mir, dass sie ihre Familien im Krieg verloren hatten.

© Hareth Almukdad
Die Gesichter der Menschen auf den Straßen spiegeln die traurige Geschichte von jahrelanger Ungerechtigkeit, Geduld und Angst. Diese Geschichte wird vervollständigt durch Tausende Bilder, die Leute auf den Straßen aufgehängt haben. Sie hoffen auf Informationen über ihre Verwandten, die vor Jahren vom Assad-Regime verhaftet wurden und deren Schicksal bis heute unbekannt ist.
Am dritten Tag traf ich in der Nähe unserer Wohnung auf Karim, einen Jungen aus Rakka, der sich um einen verwaisten Welpen kümmerte. Er erzählte, dass sein Vater vom Assad-Regime verhaftet wurde und nie aus dem Gefängnis zurückgekehrt ist. Ein anderer Junge verkaufte Tee, um seine Familie zu ernähren.

© Hareth Almukdad
Viele Geschichten der Kinder machen mich traurig. Ihre Träume sind einfach, ihre Wünsche sehr bescheiden. Ich hoffe, ihnen von Berlin aus helfen zu können.
Nach und nach erzählte meine Familie, wie sie die vergangenen 14 Jahre unter Assad überstanden hat. Es hat mich beruhigt, dass die jungen Frauen aus meiner Familie studieren und unabhängig sind. Die Tochter meines Bruders Omar, der 2013 wie viele andere vom Assad-Regime bei einem Bombenangriff auf der Straße getötet wurde, traf ich zum ersten Mal. Sie ist ein selbstbewusstes Mädchen, das mal bei der Polizei arbeiten will, in der Verbrechensaufklärung. Ich hörte ihr zu und dachte darüber nach, wie Kriege trotz ihrer Grausamkeit starke Frauen hervorbringen.
Zwei Tage vor meiner Abreise entdeckte ich den Namen meines Bruders auf der Liste derer, die im Gefängnis getötet worden waren.
Hareth Almukdad, syrischstämmiger Berliner
Am vierten Tag fuhr ich an den Stadtrand im Süden, in das Lager Jarmuk, in dem die große Mehrheit der palästinensischen Flüchtlinge lebt. Ich hatte dort eine Zeit lang gearbeitet und gelebt – und meine Frau dort kennengelernt.
Ich erreichte einen Stadtteil in Trümmern – nur Zerstörung und die Spuren der Bombardierungen. Auch vom Elternhaus meiner Frau standen nur noch Überreste. Ich rief sie an und wir sprachen über unsere gemeinsamen Erinnerungen. Unsere ersten heimlichen Treffen in der Gegend, Spaziergänge, gemeinsame Zukunftsträume, und jetzt war alles weg.

© Hareth Almukdad
Mein nächstes Ziel war das berüchtigte Saidnaya-Gefängnis. Ich wollte nach Informationen über meinen Bruder Humam suchen, der Ende 2014 vom Assad-Regime verhaftet worden war. Ich fand nichts heraus.
Zwei Tage vor meiner Abreise entdeckte ich seinen Namen auf der Liste derer, die im Gefängnis getötet worden waren. Ich traute mich nicht, das Gefängnis zu besuchen.
Die Tage vergingen schnell, es waren so viele Eindrücke. In fast jeder Straße demonstrierten Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen und mit unterschiedlichen Zielen – einige forderten die Verfolgung der Verbrecher des Assad-Regimes, andere einen säkularen Staat, wieder andere einfach nur Brot. Alle Demonstrationen wurden von Sicherheitskräften und Polizei geschützt. Vor zwei Monaten wäre das in Syrien noch undenkbar gewesen.
Der Moment des Abschieds kam. Ich verließ Syrien ohne meine Mutter, die in Damaskus bleiben wollte, bei meinen Geschwistern. Ich reiste über Jordanien und kam so in Daraa am Grab meines Vaters vorbei. Er ist im August 2024 gestorben. Er war sehr krank, wir konnten uns nicht voneinander verabschieden. Auf dem Tor des letzten Grenzübergangs bei der Ausreise standen die Worte: „Bleib nicht zu lange weg, denn dein Heimatland vermisst dich“.
Ich bin nun sehr nachdenklich. Wohin gehöre ich? Fast die Hälfte meines Erwachsenenlebens habe ich in Berlin verbracht. Berlin, das meine Frau und mich aufnahm und uns eine weitere Chance gab, unser durch den Krieg zerstörtes Leben wieder aufzubauen. Wir haben Freunde, Kollegen und Nachbarn, die ein wichtiger Teil unseres täglichen Lebens geworden sind. Berlin ist die Heimat meiner Kinder. Schon als das Flugzeug landete, überkam mich das wunderbare Gefühl: Jetzt habe ich zwei Heimatländer.